Gymnastizierung von Pferden nach Natural Horsemanship-Prinzipien
Am Natural Horsemanship wird gelegentlich bemängelt, dass die Pferde dort nicht gymnastiziert würden. Das ist so nicht richtig, denn wer z.B. bei Pat Parelli im Level 4 eine Prüfung im Finesse-Reiten ablegt, muss dort nicht nur fliegende Galoppwechsel, sondern vor allem Seitengänge wie Travers und Schulterherein und exakt gerittene Volten und Zirkel zeigen. Bei Parelli wird das Reiten mit Zügelkontakt Finesse-Reiten genannt und ist das Resultat aus einer soliden Grundausbildung.
Viele Menschen, die das Parelli-System beurteilen, kennen Schüler, die sich in den ersten beiden Levels bewegen, wissen aber nicht, dass diese beiden Levels ausschließlich der Ausbildung des Menschen dienen.
Level 1 & 2 sollen daher nach einigen Monaten abgeschlossen sein und müssen danach mit keinem neuen Pferd wiederholt werden, da Pferde sich beim einfachen Abspulen der so genannten sieben Spiele langweilen. Erst im Level 3 bringt der Mensch auch seinem Pferd etwas bei und wählt dann aus den vorher gelernten Techniken, die für sein Pferd passenden aus, was sehr individuell sein kann. Der Level 3 besteht zu zwei Dritteln aus Bodenarbeit und einem Drittel aus Reiten, wobei das Pferd lernt, dass es sich ohne Zügel in allen Gangarten anhalten und lenken lässt. Das macht vor allem deswegen Sinn, weil die Zügel im vierten Level ausschließlich dafür genutzt werden, wofür sie gedacht sind: Der Gymnastizierung. Diese braucht übrigens auch das Freizeitpferd. Das hat VeterinärJürgen Bartz bereits in der Juni-Ausgabe des Pegasus aus dem Jahr 1996 verdeutlicht:
„Die bereits beschriebenen anatomischen Voraussetzungen machen aus gesundheitlichen Gründen jedoch ein Mindestmaß beim Aufwölben des Rückens und der Anspannung des Nackenbandes durch Absenken des Kopfes erforderlich, um das Pferd nicht geradezu kaputt zu reiten. Leider (…) werden viele Pferde von Obensitzern bewegt, nicht aber von Reitern geritten. Die gesundheitlichen Folgen für die Pferde sind erheblich.“
Bekanntlich führen ja viele Wege nach Rom und im Natural Horsemanship resultiert die körperliche Versammlung aus einer emotionalen und mentalen Versammlung, wobei das freiwillige Fallenlassen des Kopfes als körperliche Entspannung erkannt wird. Diese Entspannung erreichen wir vor allem bei der Bodenarbeit. Erst durch die emotionale und mentale Versammlung wird die körperliche Versammlung entwickelt. Dafür haben wir aber nicht unendlich Zeit, denn wie Dr. vet. Jürgen Bartz weiter in seinem Pegasus-Artikel schreibt, ist der Pferderücken von der Natur nicht zum Tragen des Reitergewichts konzipiert und körperliche Schäden sind das Resultat einer falschen Körperhaltung:
„Ohne Schuldzuweisungen muss man leider konstatieren, dass gerade bei Isländern, Norwegern und anderen ganz typischen Freizeitpferden häufig Lahmheiten und andere Schäden am Bewegungsapparat diagnostiziert werden, die mit dem nachweislich sehr geringen Reitpensum dieser Pferde nicht erklärbar sind. Der Verdacht auf eine grundlegend falsche Reittechnik drängt sich dann in der Tat auf.“
Aus gutem Grund liegt daher unser Augenmerk zunächst auf den körperlichen Aspekten der Versammlung: Das Pferd soll mit den Hinterbeinen unter treten und den Rücken wölben. Genau das will man auch im Natural Horsemanship, aber man betrachtet die Versammlung eher ganzheitlich. Wenn das Pferd mental und emotional nicht in der Lage ist, sich zu versammeln, so wird es dies körperlich erst Recht nicht können – da helfen auch keine Ausbinder, Hilfszügel oder schärfere Gebisse. Natural Horsemanshipgeht daher in der Regel den umgekehrten Weg – wenn das Pferd seelisch und mental losgelassen ist, dann wird es den Hals fallen lassen und damit den Rücken automatisch ein wenig wölben und wenn der Reiter so locker und entspannt ist, dass es das Pferd dabei nicht stört, ist die erste Grundvoraussetzung „Dehnungshaltung“ bei den meisten Pferden ohne großen Aufwand zu erreichen. Das Pferd lässt immer dann den Kopf fallen, wenn es sich wohl fühlt und entspannt ist. Wenn das Pferd sich absolut sicher fühlt und nicht vom Reiter gestört wird, wird es meist seinen Kopf schon allein deswegen fallen lassen, weil es in der Vorwärts-Abwärts-Position den Kopf ohne Muskeleinsatz vom Nackenband halten kann.
Die im Natural Horsemanship angestrebte Haltung des Pferdes wird nicht nur von Westernreitern bevorzugt, sondern auch von Phillippe Karl, ein Klassisch-Reiter, der durch sein Buch „Irrwege der modernen Dressur“ bekannt geworden ist, aus dem ich hier zitiere:
„In der Dehnungshaltung werden die langen Rückenmuskeln gedehnt, die Rücken- und Nierenpartie hebt und spannt sich, das Pferd wölbt sich auf und ist besser in der Lage, Last zu tragen. Die Arm-Kopf-Muskeln können die Schultern weit nach vorne ziehen. Die Dehnungshaltung fördert raumgreifende Tritte und veranlasst das Pferd dazu, die Zügel in Bewegungsrichtung anzuspannen. Zudem sieht das Pferd mit beiden Augen klar, wohin es läuft.“
Phillippe Karl hat die so genannte „École de Légèrété“ begründet und empfiehlt darin Klassisch-Reitern, Jungpferde oder schlecht bemuskelte Pferde über einen langen Zeitraum nur in Dehnungshaltung zu reiten. Er erarbeitet diese Dehnungshaltung, indem der Unterkiefer zunächst über Einwirkungen auf die Maulwinkel lockert. Die Losgelassenheit wird also beiPhillippe Karl (genau wie im NHS) zunächst am Boden erarbeitet. Im zweiten Schritt wird die laterale Biegung erarbeitet. Über diese seitliche Biegung des Halses nach rechts und links finden Pferde ohne Zwang in die Dehnungshaltung. Auch hier wird am Boden das erklärt und erarbeitet, was später vom Sattel aus abgerufen wird. Hinzu kommt im Natural Horsemanship, dass ich das Selbstbewusstsein und das Vertrauen der Pferde durch an das Pferd angepasste Bodenarbeit verbessere. Wenn man auf diesem Weg die emotionale und geistige Entspannung erreicht hat, ist endlich auch der umgekehrte Weg denkbar: Ich bringe mein Pferd in eine Körperposition, die es entspannen lässt, um es im Fall von Angst beruhigen zu können. Manche Pferde benötigen hier unterstützende Hilfen, die imNatural Horsemanship stark dem ähneln, was auch Phillippe Karlpraktiziert. Eine weitere Übung im Natural Horsemanship ist es, dass ich mein Pferd darauf konditioniere, auf ein weiches Kneifen im Hals den Hals fallen zu lassen. Die Stellung erarbeite ich am Boden, indem ich meine Handkante am Halsansatz vor der Schulter ansetze und bei richtiger Reaktion des Pferdes löse – beim gerittenen weit ausgebildeten Pferd gelingt das Stellen sogar auf ein einseitiges Anpendeln mit dem Bein.
Auch wenn ein Pferd auf dem Zirkel oft in Außenstellung läuft, kann ich dies dem Natural Horsemanship-Programm folgend korrigieren, indem ich die Kruppe mit dem Stick herausschicke, so dass der Kopf zu mir schaut. Die laterale Biegung des Halses gehört genau wie das Senken des Kopfes zu den Grundübungen, die weich und ohne Widerstand funktionieren sollten, bevor ich mich in den Sattel setze: Parelli nennt diese Übungen und zwei weitere Übungen analog zum Instrumentencheck des Flugzeug-Piloten „Pre-Flight-Checks“.
Das Parelli-System bietet zudem mit der so genanntenHügeltherapie (siehe dazu auch Link) eine hervorragende Möglichkeit die Dehnungshaltung zu verbessern und die Rücken- und Halsmuskulatur aufzubauen. Diese Therapie dauert sechs Wochen, in denen das Pferd nicht geritten wird. In den ersten beiden Wochen longiere ich es entweder an einem Hügel oder über Sprünge täglich jeweils fünf Minuten pro Hand mit zweiminütiger Pause. Bei Pferden mit guter Kondition kann ich die Übung von Anfang an im Trab machen, bei allen anderen kommt der Trab in der dritten Woche hinzu, in der ich nur drei mal pro Woche auf diese Art longiere und auch schon den Galopp hinzunehmen kann. In der fünften und sechsten Woche wird zweimal pro Woche ausschließlich im Trab und Galopp auf dem Zirkel am Hügel oder wahlweise über zwei kleine Sprünge longiert. Zum Ergebnis dieses Trainings sagt Parelli-Instruktor Berni Zambail in der Zeitschrift Cavallo (Aug/2011):
„Nach sechs Wochen ist das Training beendet. So lange braucht das Pferd, um sich an das neue Bewegungsmuster gewöhnen zu können. Der Körper sollte nun von (der) Kruppe, über (den) Rücken und Hals muskulöser sein. Dadurch verändert das Pferd seine Haltung. Im Idealfall wölbt es den Rücken auf, senkt den Kopf und dehnt sich. Diese Haltung erhält das Pferd gesund.“
Auch beim Fallen auf die Schulter, also die Schieflage, die gerade junge Pferde auf der Kreislinie einnehmen, bietet das Natural Horsemanship Lösungsansätze.
Bei der Achterfigur gelingt es dem Pferd den häufigen Seitenwechsel, sich selbst immer besser zu stabilisieren und ein moderates Tempo zu behalten. Wenn die Achter klappen, kann ich auch einmal Schlangenlinien ausprobieren – allerdings nicht, indem ich das Pferd durch die Schlangenlinien führe, sondern ich gestalte es so, dass nur das Pferd Schlangenlinien geht und ich gehe in möglichst großem Abstand und möglichst gerade auf der einen Seite nebenher. Um die Schulter des Pferdes aus der gesundheitsschädlichen Schräglage herauszumanövrieren, nehme ich den Stick zur Hilfe und schwinge ihn in gerader Linie vertikal von unten nach oben in Richtung Schulter des Pferdes. Das Pferd wird jetzt die Schulter mehr anheben. Da ja prompt der Richtungswechsel folgt, wird mit dieser Übung das Heben der Schulter gelehrt. Im Longenkurs von Babette Teschen (zur Rezension), welcher als eBook erschienen ist, gibt es auch noch eine Variante, bei der ich Stangengassen treppenförmig platziere und das Pferd symbolisch treppauf und treppab schicke. Im Sattel angekommen und im Fall, dass ich schon mit Gebiss reite, kann ich die Schulter heben, indem ich einen Impuls am inneren Zügel aufwärts führe, so dass dieser auf den Maulwinkel wirkt.
Dies sind nur einige Beispiele, wie das Natural Horsemanship dazu beiträgt, den Pferden eine gesunde Haltung beizubringen: Die Liste ließe sich durch zahlreiche Punkte ergänzen – es lohnt sich also, sich eingehender mit dem System zu beschäftigen. Allerdings sollte man niemals den Grundsatz „Alles zu seiner Zeit“ aus den Augen verlieren, denn eine erzwungene Gymnastizierung führt zu Anspannung und Verkrampfung, was zur Folge hat, dass Muskeln durch Sauerstoffmangel abgebaut statt aufgebaut werden. Am Ende ist derjenige schneller am Ziel, der bereit ist, sich so viel Zeit zu lassen, dass kein Ausbildungsschritt vergessen oder ausgelassen wird.
Wenn Sie mich und meine Pferde näher kennenlernen möchte, dann lade ich Sie herzlich ein, den Blog auf meiner Website zu besuchen.